Inhalt
Shiva tanzt. Über sich den stahlblauen Himmel der Schweiz, unter sich, tief in der Erde, ein System aus Tunneln, die einen gigantischen Ring formen. Shiva tanzt, der indische Gott der Zerstörung, dessen zärtliche Gesten dem Kosmos die Auslöschung verheißen. Eine Statue im Herzen des Europäischen Kernforschungszentrums in Genf; und zu den Füßen des Hindu-Gottes der größte Teilchenbeschleuniger der Welt. Hier jagen Forscher Trillionen von Partikeln durch die Betonröhren und lesen in den Kollisionen und Detonationen die geheime Schrift des Universums. Und so wie die Teilchen ineinanderprallen und Energien freisetzen, die Chaos und Ordnung, Zerfall und Schöpfung erzählen, so prallen zwei Schwestern aufeinander, Jenny und Alice, und dies ist ihre Geschichte: über einen zu genialen Sohn, über dem das Schicksal des ins quantenphysikalische Nirvana entschwundenen Vaters schwebt, eine Großmutter, einst brillante Physikerin, deren Geist aber unter den Fliehkräften der Demenz in Auflösung ist, über die tödlichsten Wesen der Welt, die Moskitos, und ein junges Mädchen, dem das Internet zur Rache dient. Und schließlich Jenny und Alice, Emotion und Ratio, die Angst vor der Wissenschaft und deren Faszination. Die Welt, wie wir sie erleben, ist nicht die Welt, wie sie ist, unsere Sinne erzählen nur Märchen, die uns zu Idioten machen – und gleichzeitig, das ahnte bereits Sokrates: Je mehr wir wissen, desto mehr Fragen produzieren wir und also desto weniger wissen wir. Das gilt für das Teilchen, das die Welt im Innersten zusammenhält, ebenso wie für die Menschen um uns herum. Denn Shiva tanzt.
Besetzung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Video
Jan Peters
Sounddesign
Licht
Brigitta Hüttmann
Dramaturgie
Choreinstudierung
Choreografie
Pressestimmen
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Gegen die Fliehkräfte des Kosmos
Alles läuft auf John Lennon zu. Wenn der Kinderchor am Ende zart »Across The Universe« singt, wo im Text jemand auf den Wellen seiner Gefühle durchs Universum driftet, dann schnurren die Erzählwelten in Lucy Kirkwoods Drama »Moskitos« zusammen wie in dem Weltuntergangsszenario »Big Crunch«, in dem die gesamte Materie sich unvorstellbar stark zusammenballt. Und die Gänsehaut beim Zuhören wächst. Thomas Bockelmann inszeniert die deutschsprachige Erstaufführung, die ausverkaufte Premiere am Donnerstag im Kasseler Schauspielhaus wurde begeistert beklatscht. Kinder des Kinderchors Cantamus sorgen für die poetischen Zäsuren, auch mit »Over The Rainbow«. Sie sind Wissenschaftler-Karikaturen mit grauen Perücken, Kitteln und riesigen Brillen, wuseln über die Bühne und fügen dem Geschehen eine herrlich groteske Ebene hinzu.
Wie war's? Witzig und berührend.
Kirkwood erzählt von zwei unterschiedlichen Schwestern: Alice (Christina Weiser) ist Wissenschaftlerin in Genf arbeitet am Teilchenbeschleuniger im Cern. Ihrer Schwester Jenny (Rahel Weiss) haben Alice und die dominante Physiker-Mutter Karen (Karin Nennemann) lebenslang eingeschärft, dass sie dumm sei und niemals mithalten könne. Jennys Lebensthema ist es nun, ihren Platz neben den Superhirnen zu behaupten, darauf zu achten, dass ihr nicht reingeredet wird – auch wenn sie sich den Zuspruch ihrer Schwester noch so doll wünscht. Wie präzise diese Beziehung gestaltet ist, wie nuancenreich und witzig die Dialoge formuliert sind, ist ein großartiges Theatererlebnis. Dank Google kann auch Jenny mal wissenschaftlich daherreden, doch im Wesentlichen beharrt sie auf der Weisheit: »Mein Gefühl als Mutter sollte doch mehr zählen als ein simpler Fakt.« Hier beleuchtet Kirkwood en passant das glühend aktuelle Thema Autoritätenskepsis – und zeigt die tragischen Folgen: Jennys Tochter stirbt, weil sie nicht geimpft ist. Rahel Weiss' Jenny ist eine Frau, die an der Handtasche einen Glitzer-Elch baumeln hat und sich gern Rescue-Tropfen auf die Zunge träufelt (Kostüme: Claudia González Espíndola). Ihr gelingt ein tief berührendes Rollenporträt: saukomisch, tapsig, trotzig, warmherzig. Christina Weiser ist als ihr Gegenpart Alice die Beherrschte, deren Dauer-Zusammenreißen ihr aber einiges abverlangt, und wogegen Lover Henri (Stephan Schäfer) kaum ankommt.
Auf Mayke Heggers Bühnenscheibe mit der auffaltbaren Rückwand, auf der Jan Peters Urknallbilder projiziert, spielt sich noch ein weiteres Drama ab: Alices Sohn Luke steckt in jener undurchdringlichen Einsamkeit, wie sie dem Teenagerdasein oft zueigen ist. Vor allem im Zeitalter des Handyterrors. Auch hier: toll geschriebene Szenen, wie er mit seiner Schulkameradin Natalie chattet und später von ihr in den Abgrund gerissen wird. Tim Czerwonatis und Alexandra Lukas geben als neue Ensemblemitglieder einen eindrucksvollen Einstand. Bernd Hölscher als dozierendes Boson-Teilchen und Lauren Rae Mace als blauer Gott Shiva (dessen Tanz laut Hinduismus das Universum entstehen ließ) irrlichtern über die Bühne, brechen die dialoglastigen Beziehungsebenen surreal auf. Alle Familienmitglieder werden auseinandergerissen wie die Teilchen des Kosmos. Nur manchmal gelingt es, sich gegen die Fliehkräfte zu stemmen. Etwa wenn die Schwestern nachts in ihren Pyjamas eine Insel der Nähe schaffen.
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Die Erkundung des Ungleichgewichts
Was für ein Monstrum von Stück – dabei besteht es vor allem aus weithin scharf geschliffenen Dialogen für die Zimmerschlacht unter engsten Verwandten.